Ein neues Leben beginnen oder die Gründe, die dagegen sprechen

„Hast du nie in Erwägung gezogen, mit ihr ein neues Leben anzufangen?“

„Doch, natürlich. Tausendmal.

Tausendmal habe ich es gewollt, und tausendmal habe ich es unterlassen. Ich wagte mich bis an den Rand des Abgrunds vor, beugte mich darüber und rannte eilig wieder davon. Ich fühlte mich für Suzanne verantwortlich, für die Kinder.“

„Inwiefern verantwortlich?“

„Ich hatte mich gebunden. Ich hatte unterschrieben, ich hatte ein Gelübde abgelegt, ich musste die Folgen tragen.“

 aus: Ich habe sie geliebt, von Anna Gavalda

Auch ich hatte es tausendmal erwogen, mich an den Rand gewagt, über die Kante geschaut und erschreckt zurück gezogen beim Anblick in den viel zu tiefen Abgrund. Es wäre mit ihr gegangen, wir hätten uns gehabt, uns geholfen und getragen, die Kraft wäre dagewesen, etwas Neues zu beginnen, nahm ich an.

Dennoch habe ich es nicht getan. Anfangs war die Erleichterung da, den Handlungsdruck losgeworden zu sein. Endlich wieder frei atmen, nicht überlegen müssen, mich nicht verstecken zu müssen, nicht entscheiden zu müssen, was ich mir das im Grunde nicht zutraute. Das war eigentlich das Schlimmste, sich das eingestehen zu müssen, nicht entscheiden zu können. Es nahm mir die Kraft und die Berechtigung, zu atmen. Gleichzeitig beraubte ich mich meiner Gefühle, machte sie tot, verdrängte sie, schnitt sie ab, ohne sie wirklich ausprobiert zu haben.

Hinzu kamen Menschen, mit denen ich versuchte, die Dinge aufzuarbeiten. Einige waren nicht in der Lage, zu verstehen, wie zerrissen und uneindeutig ich war. Warum hast du nicht? Warum tust du dann? Warum gehst du nicht? Du hättest doch. Ratschläge, so hart wie ein Hammer, so unpassend, wie bei einer Uhrenreparatur. Ich musste versuchen, mich diesen Ansinnen zu erwehren, die mir so viel Kraft kosteten. Warum sollte ich diese Menschen überzeugen, von etwas, was ich selbst nicht wusste, warum es so war.

War es Liebe, die mich hielt? War es Bequemlichkeit? Sicherlich spielte auch Bequemlichkeit eine Rolle. Ein Leben aufzugeben, für das ich so lange gekämpft und gearbeitet, gehofft, gebangt und gebetet habe, kann nicht so einfach aufgeben, auch wenn es Menschen gibt, die in ihrer Anmaßung, Ratschläge zu erteilen und meinen, die Welt zu verstehen und mir das missionarisch mitzuteilen, von nichts wirklich eine Ahnung haben und ich glaube, sie wollen in ihrem Klugschiss nur von ihrem eigenen Mist ablenken und sich erheben, weil es nicht ihr Leben ist.

Nicht nur Bequemlichkeit ist da, da ist sehr versteckt noch etwas anderes. Vermutlich wollte ich nicht wieder auf die dunkle Seite, die mich schon einmal fast verschlungen hätte. Während der Schulzeit geriet ich auf Abwege, schaffte den Stoff nicht mehr, verlor den Faden, glitt ab. Die Oberstufe war reformiert, mir fehlten die klaren Strukturen des Klassenverbandes. Freie Kurswahl und vermeintlich freie Zeiteinteilung waren zu verlockend. Ich ließ es schleifen, ging oftmals nicht in die Kurse, schwänzte, ging in die Stadt, Kaffee trinken und traf mich mit Leuten, die mir nicht gut taten.

Ich tat nichts wirklich übles, nichts Schlechtes vor dem Gesetz, nur ich verlor die Schule aus dem Blick und stellte mich damit ins Abseits. Ich schaffte es auch nicht, mich wieder einzufangen, den Stoff aufzuholen. Erstens konnte ich nicht um Hilfe rufen und zweitens wusste ich nicht, wen ich fragen konnte. Meinem Großvater vertraute ich mich noch am ehesten an, ohne wirklich Klartext zu reden, weil ich Angst hatte, mich zu outen. Gefühle und Sorgen zu formulieren waren eh nicht das Ding in der Familie, es wurde sich zwar gekümmert, aber mehr im Außen.

Wirklich gut war ich nie in der Schule, aber ich konnte durch Fleiß einiges schaffen. Irgendwann reichte das nicht mehr, alles durch Fleiß zu schaffen, ich musste auch verstehen, eigene Gedanken und Meinungen haben. Zu der Zeit klappte das nicht, so wie es in der Oberstufe verlangt wurde. Ich resignierte innerlich und gab auf. Einen Plan B hatte ich nicht. Bis irgendwann die Idee kam, die Schule in der 12. Klasse zu verlassen. Ich begann, Bewerbungen zu schreiben, mit Hilfe meines Großvaters, ich bekam Einladungen zu Bewerbungsgesprächen, wurde aber nicht genommen. Die Hürden waren hoch, immerhin hatte ich kein Abitur, sondern nur die erweiterte Realschule.

Das Dilemma kehrte sich um, als ich dann noch eine Stelle im öffentlichen Dienst bekam und ich sogar beim Einstellungstermin Zuspruch vom Behördenleiter bekam mit dem Anspruch, von mir etwas zu erwarten, weil ich schließlich vom Gymnasium käme. Diese Aussage war meine Rettung, weil mir plötzlich jemand etwas zutraute. Dieser Herr Meyer hat mir wissentlich oder unwissentlich meine Zukunft gerettet und mir den rechten Weg gewiesen.

Endlich gelang es mir, mich zu finden, einen Platz zu finden, Anerkennung zu bekommen und Bestätigung. Endlich fühlte ich mich wieder als Mensch mit einer Berechtigung. Ich schmiedete Pläne, wollte mein Abitur nachholen, schaffte das auch und ging meinen Weg. Einige Zeit später lernte ich Frau Notos kennen, die noch lange nicht meine Frau werden sollte, die ich aber liebte und mir der ich endlich dahin aufbrach, wo ich mich hin sehnte, in ein Leben, das meines, unser gemeinsam gestaltetes Leben werden sollte. Wir liebten uns, wir hatten Freunde, wir lachten, hatten Spaß und waren unbeschwert. Ich bekam von ihr Bestätigung und gewann an Kraft. Die dunklen Tage lagen hinter mir. Bald hatte ich sie vergessen, verschob die unseligen Zeiten in die tiefsten Ecken meiner Seelenabgründe.

Was hat diese Geschichte nun mit meiner Unfähigkeit zu tun, mich nicht trennen zu können? Es ist schlicht die Angst, wieder auf die dunkle Seite zu rutschen, ohne Frau Notos. Schon damals, in dieser Zeit ohne Orientierung musste ich aufgenommen haben, gegen etwas zu sein, was irgendwie ins Verderben führt. Nicht auf der richtigen Seite zu sein, bedeutete Tod und Verderben, Verstoß und Strafe, Ausschluss und Verlust. Ich wollte das nicht wieder, auch wenn es früher spannend war, so am Rande zu laufen, ohne Sinn und Verstand, zum Verdruss meiner Eltern und Großeltern, aber ich fühlte mich schon auch großartig in der Rolle des Eigenbrötlers, des Unangepassten, des Verweigerers, des Schulschwänzers, auch wenn alles ohne Sinn und Verstand, ohne Zweck und Ziel und Absicht war. Es war einfach destruktiv, selbstverletzend und selbstzerstörerisch, aus Angst und Unfähigkeit heraus, mich zu äußern, meine Angst darzustellen, meine Überforderung in der Schule. Ich wollte meine Eltern nicht ängstigen, ich hatte Angst vor Strafe.

So kann das gehen, wenn Kinder vom Weg abdriften. Ich hatte einen Schutzengel damals, dem wollte ich nicht abschwören bzw. ihn böse machen.

Die Verantwortlichkeiten für die Kinder sind eine Sache, der Pakt mit Frau Notos ebenfalls, aber es aufzugeben kommt mir auch wie eine Drohung dar, aus dem Paradies verstoßen zu werden, etwas aufzugeben, was mich dereinst rettete. Ich vermeide es mit allen Mitteln, irgendwie wieder auf die schiefe Bahn der Außenseiter zu geraten, das ist auch meine Motivation bei der Arbeit. Deshalb bin ich strebsam, versuche immer mehr zu erreichen, versuche ein Vorbild zu sein, versuche perfekt zu sein, weil ich ja etwas gut zu machen habe gegenüber den dunklen Tagen.

Zumal ich das Gymnasium ohne Abitur geschmissen hatte. Noch heute spüre ich diesen Makel, auch wenn dies für meine berufliche Laufbahn ohne wirklichen Nachteil gewesen wäre, zucke ich zusammen, wenn es in Gesprächen um Schule geht. Immerhin, ich habe meine Hochschulreife nachgeholt und studiert. Dennoch, in manchen Diskussionen fühlen sich die Originalabiturienten im Vorteil (oder ist das meine Fantasie? Unterstelle ich es ihnen als meine Projektion?).

Ich will da nicht wieder hin, deshalb zucke ich so vor dem Abgrund zurück.

Irgendwann begann ich, mich abhängig zu fühlen, von Frau Notos, weil ich sie immer gebraucht habe, wollte ich keinen Menschen mehr gebrauchen, wollte zusammen sein, lieben, aus sich selbst heraus, ohne Zweck.  

 

6 Antworten zu “Ein neues Leben beginnen oder die Gründe, die dagegen sprechen

  1. Ach herrje, lieber Notos. Ich hoffe zunächst mal, dass ich nicht zu den Klugschiss-Ratschlagern gehöre. Dich zu schlagen, war und ist nämlich nicht mein Ansinnen.
    Also den Unterschied zwischen Original-Abiturienten und … ja, was sind die anderen dann Kopie-Abiturienten? – nein, das passt nicht… nun, wie dem auch sei, diese Unterscheidung lese ich heute zum ersten Mal. Und ganz ehrlich: Das ist völliger Unsinn.
    Der Schulabschluss ist bei Menschen mittleren Alters doch höchstens dann relevant, wenn ein solcher für eine bestimmte Stelle gefordert wird und das kommt eher selten vor, denn meist wiegt die Berufs- und Lebenserfahrung sehr viel schwerer. Also verabschiede dich in Ruhe und Gelassenheit von diesem subjektiv empfundenen Makel. Es ist nämlich keiner. Und es wäre auch keiner, hättest du kein Abitur.
    Zu deiner Frage nach dem neuen Leben, hm, da gibt es ein Zitat, das fällt mir gerade nicht ein. Aber letztlich kannst du kein neues Lebren anfangen, denn du hast nur ein Leben. In diesem kannst du Dinge ändern, neue Wege gehen, aber dein bisheriges Leben ist immer dabei. Wir laufen so oft von uns selber weg und kapieren nicht, dass das nicht geht. (Ich schließe mich da durchaus ein). Ich sah kürzlich den Film „Beasts of the Southern Wild“. Darin kam ein Satz vor, den ich sehr berührend fand. Wörtlich kriege ich es nicht hin, sinngemäß: Wir sind das, woraus uns all unser Erleben, unser Fühlen, unsere Erfahrungen gemacht haben. Die Guten wie die Schlechten. Ohne deine negativen Erlebnisse wärst du heute ganz woanders, vielleicht da, wo du gar nicht sein willst. Du wärst ein anderer, mit anderen Sorgen und Problemen.
    Wünsche dir von Herzen, dass du dich und dein Leben, deine Erfahrungen annehmen kannst. LG

  2. Ich danke dir für diesen offenen und differenzierten Einblick in deinen inneren Konflikt. Es hat mich sehr berührt, deinen Text zu lesen, umso mehr als ich eine ähnliche Situation aus der Perspektive der „Dritten im Bunde“ kenne. Und auch wenn zwei Geschichten nie hundertprozentig vergleichbar sind, so vertiefen deine Worte doch mein eigenes Verstehen und Annehmen der Situation.

  3. Lieber Follower
    Ich bin mir nicht sicher, ob du meinem Blog “nixZen” noch folgst. Wie auch immer, nixZen gibt es nicht mehr, sondern aquasdemarco.wordpress.com.
    Solltest du den Reader von wordpress nutzen, bitte die Adresse aktualisieren.
    THX! Nixzen

    • Lieber Aquas de Marco, alias NixZen,
      habe ich registriert. Bin gespannt, war noch nicht dort, weil ich derzeit selten in Blogs unterwegs bin.
      Grüße
      Notos

  4. Verdammt ehrlich – Respekt! Trennen bedeutet nicht nur Befreiung von Altlasten und Zwängen, sondern auch Abschied von dem, was einem viel wert war/ist,
    LG und alles Gute.

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